Sharing entspricht uns mehr als Besitz
Sie ist Architektin, er ist Architekt. Trotzdem wohnt die Familie Zürcher-Hashimoto nicht im eigenen Haus, sondern hat sich bewusst für eine Genossenschaftswohnung entschieden und fühlt sich ausserordentlich wohl am Brüderhofweg in Zürich Unterstrass.
Ein Mieterporträt mit Carlo und Tomoko Zürcher für die Baugenossenschaft Frohheim.
Bei einem ArchitektInnen-Ehepaar wäre es naheliegend, dass sie in einem selbst entworfenen Haus wohnen würden. Warum leben Sie in einer Genossenschaftswohnung?
Carlo Zürcher: Die Frage bedient auch das Klischee, Architekten, seien generell sehr wohlhabend. Meine Frau und ich arbeiten aber beide als Angestellte und erfüllen dieses Klischee nicht. Den Traum vom Eigenheim habe ich zudem nie gehabt, ich bin vom Charakter her eher der Mietertyp. Ich bin zwar im ländlichen Raum aufgewachsen, habe später längere Zeit im Ausland in Städten verbracht, in London, Berlin und ein Jahr lang in Tokyo, wo ich meine heutige Frau kennenlernte. In dieser Zeit habe ich das Leben in der Stadt schätzen gelernt. Auch habe ich die verschiedenen Qualitäten von Zusammenleben in Mietwohnungen und WGs kennengelernt. Vom Leben in der Genossenschaftswohnung erhoffe ich mir ein spannendes und aktives Umfeld, das über das reine Wohnen hinausgeht.
Tomoko Zürcher: In meiner Kindheit bin ich in Tokyo in einem Wohnhaus mit Garten aufgewachsen. Die Verbindung von Stadt und grünem Aussenraum finde ich hier in der Siedlung wieder, welche auch den Bedürfnissen unserer beiden Kinder gerecht wird. Mir gefällt das soziale Leben in den Mietwohnungen sehr gut, wir geniessen die Lebensqualität. Und dass wir hier Infrastruktur teilen, finde ich sehr wichtig. Sharing entspricht uns mehr als Besitz. Diese Haltung möchte ich auch meinen Kindern vorleben.
Genossenschaft heisst auch Zusammenleben in den Siedlungen. Wie und wo beteiligen Sie sich?
Carlo Zürcher: Wir wohnen das erste Mal in einer genossenschaftlichen Siedlung, die vorherigen Wohnungen befanden sich in normalen Mietshäusern. Da wir erst im Frühjahr 2021 eingezogen sind, also während der Pandemie, gab es bisher noch nicht so viele Anlässe. Deshalb freuen wir uns schon auf das Sommerfest Anfang September.
Tomoko Zürcher: Mit den Kindern waren wir am Samichlaus-Nachmittag in der Siedlung und ich hab den Flohmarkt besucht. Das Leben soll für uns aber auch neben den organisierten Anlässen stattfinden, deshalb sind die Spielplätze und der Sportplatz die Magnete in der Siedlung für uns als Familie mit zwei Kindern. Wir freuen uns, wenn unser Sohn in den Kindergarten kommt, und wir so sozial noch mehr in der Siedlung ankommen.
«Verglichen mit Japan sind die grossen Wohnflächen in der Schweiz pro Person ein richtiger Luxus.»
Tomoko Zürcher
Wie unterscheidet sich das Leben in einer Mietwohnung in der Schweiz von demjenigen in Japan?
Tomoko Zürcher: Verglichen mit Japan sind die grossen Wohnflächen in der Schweiz pro Person ein richtiger Luxus. Auch sind die Räume hier höher. Mein Mann muss in Japan bei den traditionell 1.80 Meter hohen Türrahmen immer den Kopf einziehen (lacht). Und in Tokyo, das auf dem gleichen Breitengrad wie der Norden Marokkos liegt, braucht man im Sommer elektrische Klimageräte, die dann im Winter den Raum heizen, in dem man sich gerade aufhält. Daher sind in vielen Landesteilen auch die WC-Sitze standardmässig beheizt, damit im Winter in der Nacht auf der Toilette zumindest der WC-Sitz nicht kalt ist. Energetisch gesehen sind wir in der Schweiz beim Wohnungsbau Japan deutlich voraus.
Carlo Zürcher: In Tokyo leben vierköpfige Familien nicht selten auf 60 Quadratmeter Wohnfläche. Dabei wird der Schlafraum tagsüber oft als Wohnraum genutzt, was dank dem Futon gut geht, denn die japanische Bettvariante lässt sich tagsüber leicht verstauen. Trotz der dichten Belegung der Wohnungen ist die Lebensqualität in den Quartieren von Tokyo sehr hoch. Ein Grund dafür ist, dass sich die Bewohner für die Sauberkeit und Gestaltung des öffentlichen und halböffentlichen Bereichs in den Quartierstrassen verantwortlich fühlen.

Carlo Zürcher und Tomoko Zürcher während des Interviews.
Was schätzen Sie besonders an der Siedlung Brüderhofweg?
Tomoko Zürcher: Ich finde es toll, dass es einen extrem hochwertigen Aussenraum hat und dass mit dem Restaurant Anna ein zusätzlicher Treffpunkt in der Siedlung geschaffen wurde, neben den Spielplätzen und Gemeinschaftsräumen. Mir gefallen auch die vielen verschiedenen Kontakte, die wir dank der guten Durchmischung in der Siedlung und im Haus haben.
Welche Infrastrukturangebote nutzen Sie in der Siedlung?
Carlo Zürcher: Die KITA nutzen wir, ebenso das Restaurant. Und im Gemeinschaftsraum waren wir an Samichlaus. Wir können uns auch gut vorstellen, dass wir ein Gästezimmer mieten, wenn Tomokos Eltern uns mal besuchen kommen. Auch an der Kinderolympiade haben wir mit unseren Kindern schon zwei Mal teilgenommen.
Und was schätzen Sie besonders an Ihrer Wohnung?
Carlo Zürcher: Da wir zuoberst wohnen, sind wir etwas privilegiert – wir haben etwas mehr Licht und können die schöne Aussicht geniessen. Auch der Grundriss gefällt uns sehr gut, die offenen Bereiche für Kochen, Essen und Wohnen, da kann man sich auch mit Besuch sehr gut unterhalten.
Tomoko Zürcher: Ich liebe die diagonale Anordnung von Ess- und Wohnbereich: einerseits offen, aber trotzdem durch den räumlichen Versatz leicht abgetrennt. Und wir geniessen natürlich jeden Tag unsere Terrasse. Zudem sind die Materialien sehr hochwertig, von den Böden bis hin zu den elektrisch bedienbaren Sonnenjalousien.
Fotoimpressionen aus dem Zuhause von Familie Zürcher-Hashimoto
Wie beurteilen Sie die Siedlung architektonisch?
Carlo Zürcher: Es ist richtig, hier am Brüderhofweg viel Wohnraum anzubieten und als Beispiel für eine verdichtete Überbauung finde ich die Siedlung sehr gelungen. Die Architekten haben es geschafft, bei einer hohen Anzahl von Wohnungen pro Gebäude gute und spannende Grundrisse zu entwerfen. Die Anordnung der Gebäudevolumen generiert einen durchlässigen Aussenraum, der sich mit dem parkartigen Quartier verzahnt. Der Natursteinsockel im Aussenbereich stellt einen gewissen Grad an städtischer Öffentlichkeit her. Auch die Farbwahl gefällt mir sehr.
Tomoko Zürcher: Mir gefällt die Gestaltung der Grünflächen sehr gut, die Landschaftsarchitekten haben gute Arbeit geleistet. Und auch die Gärtner lassen sich viel einfallen bei Neubepflanzungen. Dabei wird der Aussenraum in den kommenden Jahren mit den wachsenden Bäumen immer grüner werden.
«Für idealen Wohnungsbau muss man primär einen guten Ort schaffen, an dem sich die Leute wohlfühlen.»
Carlo Zürcher
Was macht gute Architektur im Wohnungsbau heute aus?
Carlo Zürcher: Dazu muss man primär einen guten Ort schaffen, an dem sich die Leute wohlfühlen. Wichtig ist dabei einerseits die richtige Programmierung, also ein vielfältiges Angebot an Wohnungen, gemeinschaftlich und gewerblich genutzten Räumen, um eine grosse Durchmischung bei den Bewohnerinnen und Bewohnern zu erreichen. Andererseits muss ein Gebäude oder auch eine ganze Siedlung städtebaulich in ein Quartier eingebunden werden, was hier ebenfalls gut gelöst ist.
Tomoko Zürcher: Auch die Formensprache der Gebäude ist zentral: Gebäude ohne Ecken, Kanten, Ein- und Ausbuchtungen wirken wie Schuhschachteln. Wie man es besser macht, zeigt diese Siedlung. Die Anordnung der Balkone und anderer Elemente bringt viel Bewegung in die Gebäudelinie.
Gebäude müssen heute noch nachhaltiger sein als früher, was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Carlo Zürcher: Nachhaltigkeit ist das grosse Thema, mit dem sich die ganze Branche intensiv auseinandersetzen muss. Während es in den letzten Jahrzehnten vor allem darum ging, den Energieverbrauch der Gebäude zu optimieren und auf erneuerbare Wärmeerzeugungen umzustellen, wird inzwischen vermehrt darauf geachtet, schon bei der Erstellung von Gebäuden so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen. Das bedeutet zuerst, den Bestand so wenig wie möglich zu zerstören, sondern wenn immer möglich umzunutzen. Denn am meisten Energie spart man mit Gebäuden, die nicht neu gebaut werden müssen. Zur Zeit arbeite ich an einem Neubau für ein Gerichtsgebäude, wo wir Holz als Konstruktionsmaterial mit wenig grauer Energie einsetzen. Zudem entsprechen wir dem Standard für nachhaltiges Bauen Schweiz und verfolgen Lowtec-Konzepte bei der Haustechnik – das Ziel, nachhaltig zu Bauen, ist heute integraler Bestandteil der Arbeit.
Welche Rolle können oder sollen aus Ihrer Sicht Wohnbaugenossenschaften für gute und nachhaltige Architektur grundsätzlich übernehmen?
Tomoko Zürcher: Ökologie kann heute von niemand mehr ausgegrenzt werden. Zudem haben Genossenschaften wie auch der Staat beim Bauen finanziell etwas mehr Spielraum, da beide nicht gewinnorientiert sind, und können daher eine Vorbildrolle einnehmen.

Familie Zürcher-Hashimoto