Einen Sitz brauch ich immer unter meinem Hintern

Vor einem Jahr ging er mit 68 Jahren in Rente, 30 Jahre lang arbeitete Alex Oberholzer als Filmkritiker für Radio 24. Seit 8 Jahren wohnt er in einer rollstuhlgängigen Zweieinhalbzimmerwohnung im Suteracher in Zürich Altstetten.

22. April 2022

Ein Mieterporträt mit Alex Oberholzer für die Baugenossenschaft Frohheim

Was ist Ihnen wichtig im Leben?

Glücklich und zufrieden sein können. Das gilt nicht nur für mich, sondern auch für meine Liebsten, meinen Freundeskreis und vor allem für meine vier Kinder. Wenn es denen gut geht, geht es mir auch gut. Grundvoraussetzung ist, dass es in vier Bereichen stimmt: Bei der Gesundheit, bei der Arbeit, das hat seit der Pensionierung etwas nachgelassen, im Beziehungsleben und beim Wohnen.

Warum haben Sie sich 2014 dafür entschieden, in einer Genossenschaft zu wohnen?

Wegen meiner zunehmenden Behinderung war ich immer mehr auf den Rollstuhl angewiesen. Daher musste ich mir eine rollstuhlgängige Wohnung suchen. Hinzu kam, dass bereits alle Kinder ausgezogen waren und sich die Beziehungssituation verändert hatte. Ich hab mein Leben lang im Zürcher Kreis 6 gewohnt und wäre gerne in dem Quartier geblieben, aber behindertengerechte Wohnungen gibt es nur sehr wenige. Die Wohnung, in der ich jetzt lebe, war die einzige, die ich nach langer Suche finden konnte. Ich war überglücklich, sie zu erhalten.

Wie stark engagieren Sie sich am gemeinschaftlichen Leben in der Siedlung Suteracher?

Am Anfang hab ich aktiv an gemeinsamen Essen und am Genossenschaftstag teilgenommen, um auch Leute ausserhalb des Wohnblocks kennenzulernen. Wenn man schon in einer genossenschaftlichen Siedlung wohnt, soll man sich auch einbringen und sich mit den Nachbarn austauschen. Für mich stimmt die Mischung aus Nähe und Distanz, einige kennt man mit Namen, andere vom Sehen. Sympathisch ist, dass man sich in der ganzen Siedlung grüsst, wie in einem Dorf.

Alex Oberholzer in seinem Rohlstuhl auf einem der Verbindungswege in der Siedlung am Suteracher.

Alex Oberholzer in seinem Rollstuhl auf einem der Verbindungswege in der Siedlung am Suteracher.

Sie lebten früher jahrelang in einem Haus. Was sind für Sie die grössten Unterschiede zwischen einem eigenem Haus und einer Genossenschaftswohnung?

Im eigenen Haus stört kein Lärm. Das ist mit kleinen Kindern sehr praktisch. Und man kann verändern, was man will. Dafür hat man in der Genossenschaft alle Annehmlichkeiten eines Mieters: Ich muss mich nicht um Heizöl oder Gas kümmern oder um die Leerung der Mülleimer, es funktioniert einfach immer alles, und im Falle eines Falles kann ich den Hauswart kontaktieren, der Schäden schnell behebt. Also alles sehr bequem. Und in einer Genossenschaft ist alles sehr persönlich, was das Zusammenleben sympathischer macht. Auch der Hauswart gehört zur Siedlung.

«In der Genossenschaft habe ich alle Annehmlichkeiten eines Mieters: Ich muss mich um nichts kümmern, es funktioniert einfach immer alles.»

Alex Oberholzer

Sie sind auf einen Rollstuhl angewiesen – wie erleben Sie die Siedlung?

Meine Wohnung und diejenige nebenan haben nicht nur keine Schwellen, das würde nicht ausreichen. Die Türen sind automatisch, die Jalousien elektrisch, die Dusche ist schwellenlos und die Küche lässt sich mit dem Rollstuhl unterfahren. Die Genossenschaft hat mir auch ermöglicht, neben meinem Autoparkplatz einen Töffparkplatz zu mieten, auf dem ich meinen Rollstuhl abstellen kann. Einen Sitz brauch ich ja immer unter meinem Hintern, entweder den Autosessel oder den Rollstuhl.

Und wie präsentiert sich das Quartier hinsichtlich der Barrierefreiheit?

Für mich ideal. Ganz in der Nähe hab ich einen Lebensmittelladen, der sehr gut zugänglich ist. Und wenn mal was in einem Gestell zu hoch für mich ist, hilft das Personal schnell und freundlich. Alle Übergänge im Quartier sind abgeschrägt, seit kurzem sind auch die Bushaltestellen rollstuhlgängig. Wenn ich in Zukunft nicht mehr Auto fahren kann, ist es vielleicht ein Nachteil, dass die Siedlung sich am Rand von Altstetten befindet, womit Restaurants oder eine Bar für mich nicht mehr so einfach zu erreichen sein werden.

 

Ein Spaziergang mit Alex Oberholzer in der Siedlung Suteracher

Teile zweier Gebäude, Sträucher im Vordergrund.
Alex Oberholzer im Rollstuhl neben Sitzbank.
Bushaltestelle Loogarten, im Hintergrund Teile der Siedlung.
Alex Oberholzer im Rollstuhl von hinten auf einem Kiesweg.
Sitzbank auf grüner Wiese vor Bäumen.
Orientierungsplan in der Siedlung Suteracher.
Eingang zu einem Block mit flachen Gehwegen.
Blick auf das Gebäude, in dem sich die Wohnung von Alex Oberholzer befindet.

Wie muss man sich die Wohnung eines Filmkritikers vorstellen? In jedem Zimmer einen grossen Bildschirm?

Im Gegenteil. Früher hab ich Filme nur im Kino geschaut, den Fernseher brauchte ich einzig für Sport und Nachrichten. Seit Corona, meiner zunehmenden Bewegungseinschränkung und dem Umstand, dass ich nicht mehr vor jedem Kino parken kann, ist das anders. Ich lasse mir hin und wieder Filme vor dem Kinostart elektronisch übermitteln und schaue sie dann auf dem Computer an. Aber wenn immer möglich gehe ich ins Kino. Computer ist Büro. Kino ist Kathedrale.

Was sind für Sie die wichtigsten Gründe, Filme im Kino zu schauen?

Erstens die grosse Leinwand. Dann ist das Erlebnis im Kino viel fokussierter. Man geht bewusst in den Saal, der dann abgedunkelt wird. Der Blick geht nur zur Leinwand, Bild und Ton sind exzellent. So kann man wunderbar und vollkommen in eine fremde Welt eintauchen. Zu Hause geht das nicht. Da klingelt das Telefon, es piepst der Geschirrspüler, es gibt immer irgendwelche Ablenkungen. Ich muss allerdings hinzufügen, dass ich im Kino weiterhin die Medienvisionierungen besuche, also kein Gemeinschaftserlebnis habe mit vollen Sälen und knisternden Popcorntüten.

«Im Kino ist das Erlebnis viel fokussierter. Der Blick geht nur zur Leinwand, Bild und Ton sind exzellent. So kann man wunderbar in eine fremde Welt eintauchen.»

Alex Oberholzer

Im letzten Sommer gingen Sie mit 68 Jahren in Pension. Was füllt heute Ihre Tage aus?

Ich bin weiterhin für Radio 24 auf Abruf freischaffend tätig. Dann stelle ich einmal im Monat Filme vor an der Bernhard-Matinee im Bernhard Theater und ebenfalls einmal im Monat gibts im ehemaligen Kino und heutigen Gourmet-Restaurant Razzia das Cinema-Dinner, das ich kuratiere und präsentiere. Weiter bin ich für das Programm eines Zürcher Landkinos verantwortlich. So besteht mein Leben aus einer Mischung von regelmässigen Tätigkeiten und Tagen, die ich mir frei einteilen kann. Eine Mischung, die mir sehr behagt.

Welche Rolle spielt der Film heute in Ihrem Leben?

Er spielt noch eine wichtige Rolle, jedoch nicht mehr eine Hauptrolle. Früher war ich vier bis fünf Mal die Woche im Kino, heute nur noch ein- oder zweimal. Aber für meine Tätigkeiten muss ich natürlich auf dem Laufenden bleiben.

Alex Oberholzer auf Rollstuhl im geöffneten Eingang zu seinem Wohnblock.

Barrierefrei wohnen bedeutet auch automatische Türen, die Alex Oberholzer per Schlüssel oder Knopfdruck öffnen kann.

Alex Oberholzer im Interview

Alex Oberholzer im Interview.

Bitte empfehlen Sie einen Film, die den Genossenschaftsgedanken oder das Zusammenleben besonders gut zum Ausdruck bringen.

Eigentlich ist das Zusammenleben in fast jedem Film ein Thema, sei es im Liebesfilm, wo es hoffentlich funktioniert, oder im Drama, wo die Fetzen fliegen, oder im Thriller, wo es entgleist. Besonders typisch werden die Schönheiten und Schwierigkeiten des Zusammenlebens dargestellt im Film «Eden für jeden» von Rolf Lyssy.

Als Filmkritiker muss man zuerst den Film als Medium lieben. Sie scheinen auch sonst ein Mensch zu sein mit einer positiven Grundeinstellung, auch wenn in Ihrem Leben vieles schwierig war. Wie gelangen Sie zu Ihrer lebensbejahenden Haltung?

Durch die Mitmenschen. Dafür ist man auf die positiven Reaktionen von anderen angewiesen. Ich bin ja in einem Kinderspital aufgewachsen, was für mich super war. Alles war gut zugänglich, die Krankenschwestern und das übrige medizinische Personal konnte man sich kaum liebenswerter vorstellen. Das Leben danach ausserhalb des Spitals war zuerst mal ein Schock, aber im Lauf der Jahre habe ich so viel positive Zuwendung erhalten, dass ich mich immer wohler fühlte. Natürlich bemühe ich mich, mich so zu verhalten, dass die Umwelt mit mir freundlich und nett ist. So erhalte ich positive Rückmeldungen. Daraus wiederum gewinne ich meine Lebensfreude, die ich gerne kultiviere und auch weitergebe.